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1. Allg. Bemerkungungen zu (Kino-)Dokumentationen zur Finanzkrise

Voruntersuchungen an: CAPITALISM - A LOVE STORY (Michael Moore, USA 2009), INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010), MASTER OF THE UNIVERSE (Marc Bauder, D 2013)

 

 

 




1.1. Metonymische Bildzirkulationen

 


Wie in den Nachrichtenbeiträgen sind auch in den Dokumentationen viele Ton-Bild-Kombinationen zu finden, in denen visuell repräsentierte Objekte, i.d.R. Gebäude, metonymisch für die genannten Institutionen, Akteursgruppen oder Zustandsbeschreibungen stehen. Zum Beispiel:

 


"Morgan Stanley was also selling mortgage securities it was betting against." (INSIDE JOB, 52. Min) 


"In einer beispiellosen Aktion hatte die US-Notenbank zuvor den Zusammenbruch von Bear Stearns verhindert. (...) JPMorgan übernahm den angeschlagenen Konkurrenten zum Schrottpreis." (ARD Tagesschau, 17.3.2008)

 


 

 



Durch die größere zeitliche und konzeptuelle Distanz zu den Ereignissen der Krise entsteht aber häufig eine doppelte Struktur dieser Metonymien, indem die Zuspitzung der Vorgänge zur "eigentlichen" Krise begleitet wird von der Rahmung dieser Bildstrukturen als selber Erfahrungsformen der Krise. D.h. es stehen nicht mehr die Bilder von Bankgebäuden für die Institution, sondern eine bestimmte Dynamisierung dieser Bilder, als "Bilder von Bildern von Bankgebäuden", steht nun für die Finanzkrise selbst.

 

 

 




CAPITALISM - A LOVE STORY (77. - 78. Min.)

 


 

 



Für einen Großteil der Filme lässt sich dies zum einen als ein grundlegendes Element der Rhythmisierung der audiovisuellen Struktur aufzeigen. Die Hypothese hierzu lautet, dass - mehr als die extrem redundanten, metonymischen Verweisstrukturen - vor allem die variablen Dauern, Bewegungsmuster und grafischen Strukturen dieser Bilder genutzt werden, um die zeitliche und affektive Entfaltung der Argumentation hervorzubringen.

 


So wird in INSIDE JOB die zunehmende Entfernung des Finanzssystems von der Realität der Wirtschaft und insb. der privaten Kredite für Hausbesitzer durch die extreme Abstrahierung der bildlichen Strukturen generiert (30. - 55. Min.):

 


 

 



Der Verweis auf "Bilder von Bildern" lässt sich schließlich zum anderen erweitern zu der allg. Verwendung von "found footage" als einer Standardfigur des Krisentopos:

 

 

 




Dies betrifft historische Bilder historischer Krisen (MASTER OF THE UNIVERSE, 48. - 49- Min; Asienkrise der 1990er Jahre)...

...sowie Verfremdungseffekte, die Bilder von Bildern generieren (MASTER OF THE UNIVERSE, 64. Min; Griechenlandkrise).

 

 

 




In INSIDE JOB (hier 66.- 70. Min.) wird diese Verweisstruktur vor allem über ständige Formatänderungen (die schwarzen Balken am rechten und linken Bildrand) signalisiert:

 


 

 

 




Eine Hypothese, die im Projekt verfolgt werden soll, lautet daher, dass sich die Inszenierungen der Finanzkrise in den Langdokumentationen unmittelbar als affektpoetische Neu-Beschreibungen der TV-Nachrichten beschreiben lassen. Die Bilder der Krise werden dabei als krisenhafte Bilder selbst dramatisiert, rhythmisiert und dynamisiert. (Die unten im Detail analysierte Szene aus CAPITALISM - A LOVE STORY ist eine zugespitzte Variante dieses Prinzips, dessen subtileren und möglicherweise grundlegenderen Erscheinungsformen in den anderen Filmen herauszuarbeiten sein werden.)

 

 

 




1.2. Makrodramaturgien der Krise

 


Eine zweite Beobachtung, die an den drei untersuchten exemplarischen Fällen gemacht wurde, und die auf ihre Übertragberkeit und Reichweite hin zu untersuchen sein wird, ist der beinahe bilderbuchartige Ablauf des Krisen-Szenarios als Dramaturgie. Damit ist eine Abfolge von Stationen gemeint, die sich in etwa folgendermaßen bezeichnen und qualifizieren lassen:

 


  1. „Andeutung/Warnung“
  2. „allmähliche Zuspitzung, Zeitdruck und Einengung der Handlungsspielräume“
  3. „Krise als Wendepunkt“
  4. „(lähmende) Nachwirkung“

 


In INSIDE JOB wird dies - nach einer ca. 12 minütigen Exposition - durch explizite Kapitelbezeichnungen noch zusätzlich verdeutlicht:

 


  1. HOW WE GOT HERE (12. - 30. Min)
  2. THE BUBBLE (2001 – 2007) (30. - 55. Min)
  3. CRISIS (55. - 75. Min)
  4. ACCOUNTABILITY (75. - 90. Min)
  5. WHERE WE ARE NOW (90. - 102. Min)

 


Affektiv ist dieser Verlauf als eine zunehmende Erfahrung von Kontrollverlust zu qualifizieren, die sich in einem Moment der Passivierung, der – mit Deleuze – rein optisch-akustischen Situation überträgt und dort ausläuft. Hierbei scheint besonders interessant, dass sich sowohl CAPITALISM - A LOVE STORY als auch INSIDE JOB dieses Szenario sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene zu eigen machen. Zusätzlich wenden die Filme die Erfahrung der Ohnmacht in einem Moment moralischer Empörung, sie versuchen also die Krise selber umzuwerten und haben in diesem Sinne nicht die (In)Stabilität des Finanzsystems als Gegenstand, sondern das Verhältnis des Zuschauers zu diesem System, ein Verhältnis, das ein kritisches werden soll.

 

 

 

 

 






2. CAPITALISM - A LOVE STORY

 


Die Szene der "Krise als Wendepunkt" in CAPITALISM - A LOVE STORY befindet sich zwischen der 76. und 79. Minute des insgesamt knapp zweistündigen Films. Sie ist der vorläufige End- und Höhepunkt eines extrem induktiven Vorgehens des Films, der Amateuraufnahmen und Einzelschicksalen von Zwangsräumungen mit einer Kulturgeschichte des Konsums konfrontiert und hieraus die konkreten Prozesse der Finanzkrise von 2007ff  herleitet und grundiert.

Die Szene besteht aus vier ABEs (Ausdrucksbewegungseinheiten), mit distinktem rhythmischen Strukturen und inszenatorischen Stilen. Der Stilwechsel selbst ist dabei ein grundlegendes Element dieses Films, einen affektiven Parcours von Nostalgie, Verwunderung, Empörung sowie Ironie und Sarkasmus zu gestalten.

 

 

 




2.1. ABE 1 (1:15:06 - 1:15:56)

 


Die erste ABE montiert anonyme, historische Filmauszüge (u.a. ein Animationsfilm, einen frühen Film der ca. 1910er Jahre, B-Movies ca. der 1950er Jahre) mit stellvertretenden, assoziativen bzw. metonymischen Bildern der Politik- und Finanzkrise (Wahlkampf Obama v. McCain, Schilder vor zwangsgeräumten Häusern, Info-Grafiken, ein Roulette-Tisch).

 


 

 

 




Gemeinsam mit der hektischen, vorwärtsdrängenden Musik – in der Dringlichkeit abgeschwächt durch den ironischen Off-Kommentar Michael Moores –  gestalten sie die audiovisuelle Dynamik einer beständigen Ablenkung, einer steigernden Unruhe:

 


HIER ABE-CLIP

 

 

 




Statische Bilder, die eine starke Zentralperspektive und kompositorische Ausrichtung auf das Bildzentrum aufweisen, wechseln mit schnellen Seitwärtsbewegungen, Kameraschwenks und Zoom-Bewegungen.


 

 


 

 

 




Am Ende wird diese Unruhe gesteigert durch die Ausschnitte aus den B-Movies, die panische Individuen oder Menschenmassen zeigen, wobei der springende Punkt die ständige wechselnden Blickachsen der Figuren in das Off sind: Eine Frau schaut verschreckt nach links, eine Gruppe Teenager drängt sich zusammen und blickt nach rechts, eine Menschenmasse flieht von links hinten nach rechts vorne, jemand stürzt dabei auf die Kamera zu und verdeckt die Sicht, die Gruppe Teenager erscheint erneut und blickt nun nach links, drängt dabei nach rechts aus dem Bild heraus, drei asiatisch aussehende Figuren schauen mit weit aufgerissenen Augen nach rechts vorne, durch breite Fensterrahmen eingeengt.

 


 

 

 




2.2. ABE 2 (1:15:56 - 1:17:05)

 


Die zweite ABE setzt dieser Unruhe eine zunächst extrem statische Anordnung gegenüber: Nah- und Großaufnahmen des frontal in die Kamera redenden George W. Bush. Die drei Einstellungen von zunehmender Länge – ca. 7, 24 und 34 Sekunden – sind dabei digitale Komposita, in denen der Bildhintergrund der Rede – ein von Säulen flankiertes Foyer im Weißen Haus mit rotem Teppich und Flaggenstandarten im Hintergrund – nachträglich durch eine digitale Kopie ersetzt wurde, die sich akkumulierenden Eingriffen ausgesetzt werden.

 


HIER ABE-CLIP

 

 

 




Es beginnt mit flackernden Lichtern, Blitz und Donner, dann fallen Lampen von der Decke und Personen laufen panisch durch das Bild, schließlich brechen die Wände zusammen und setzen Blitze den Raum in Flammen.

 


 

 

 




Diese Eingriffe erzeugen einerseits durch den Kontrast mit der Ruhe des Redenden und andererseits durch die subtile Synchronizität des einfallenden Chaos in Bild und Soundeffekten mit den Pausen und Betonungen der Rede einen komischen Effekt.

 


Zugleich ist das linear ansteigende dieser Eingriffe eine Form des Zeitmessers in der Wahrnehmung der Zuschauer, der progressiv auf einen Moment der Zuspitzung zuläuft, an dem der ursprüngliche Hintergrund (bis auf das Detail einer amerikanischen Flagge) vollständig in Flammen, Rauch und Trümmer aufgelöst ist und das Gesicht des Präsidenten stillgestellt, eingefroren wird.

 

 



2.3. ABE 3 (1:17:05 - 1:17:21)

 


Die dritte ABE ist extrem kurz und verdichtet, sie beschreibt die Krise als parataktische Eskalation in Sprache und Bild: Visuell handelt es sich um eine Verdichtung von Nachrichtensendungen großer Networks (erkennbar sind NBC, ABC), die zu einem Bild der Berichterstattung als Alarmismus werden.

 


Die Einstellungslängen werden erst beschleunigt (Einst. 2-4), dann ent- (4-6) und wieder beschleunigt (6-8) und münden in einem extrem schnellen Takt von drei Einstellungen mit ca. 1 Sek Dauer (9-11).

Screenshot (Auszug): Annotationsliste der Einstellungslängen für ABE 3 aus dem ELAN-Annotationsprogramm (unter "Annotation" gerundet, rechte Spalte: exakte Dauer).

Mit einer Ausnahme sind alle Ausschnitte bewegt und führen wechselnde Schwenk- und Zoombewegungen aus, die schließlich zu einem Effekt der Verengung des Raumeindrucks führen. Das ganze wird unterlegt durch ein disharmonisches Crescendo in der orchestralen Musik.

 


ABE-CLIP

 

 

 




Die Aussagen von Nachrichtensprechern – im Bild und im Off – werden auf kurze Floskeln und Satzteile reduziert, sie sind in Mimik und Prosodie extrem angespannt und es werden diverse assoziative oder metaphorische Felder (Kernschmelze, das Finanzsystem als instabiles Gebäude, Horrorfilme, Naturkatastrophen) aufgerufen. Als sprachlich-akustische Metapher entsteht schließlich die Börse als ein taumelnder Boxer: Und zwar durch die Kombination der Aussagen „...fights for its life“ und „blood on the floor“ - zwischen die das Geräusch einer läutenden Glocke (die i.d.R. mit dem Signal des Handelsschlusses assoziiert ist) montiert wird - mit den bewegten und schließlich abwärts/seitwärts kippenden Kamerabewegungen:

 


"...rocked to its foundation..." (Zoom in)

"...stocks plummet..." (Schwenk runter)

"...blood on the floor..." (Zoom out)

"... a category five test of our financial levees..." (Schwenk rechts + unten)

 

 

 




2.4. ABE 4 (1:17:21 - 1:18:59)

 


Die vierte ABE überführt diese Eskalation zunächst in einen Moment der Ruhe: Die gelassene Stimme des Interviewpartners William Black führt eine neue Metapher bzw. Allegorie ein: die Krise als Dammbruch. Die ABE besteht – bis auf die Aufnahmen des talking heads zu Beginn und am Ende sowie einzelne animierte Grafiken aus der Berichterstattung – ausschließlich aus Standbildern von Börsenhändlern, die über sich steigernde Schwenks und Zooms in Bewegung versetzt und mit grafischen Elementen kombiniert werden.

Im Prinzip wiederholt diese Szene dabei auf der Ebene des Rhythmus noch einmal in komprimierter Form das Prinzip der Krise als Zuspitzung und Zeitdruck, die sich in einem Moment Wendepunkt entladen: Vom Moment der Ruhe ausgehend folgen drei Wellen (grün) der leichten Be- und anschließenden Entschleunigung in Schnittfrequenz, in Bewegung über die Standbilder und in der Bewegtheit der Grafikanimationen. Diese erreichen ihren Höhepunkt in einer Kaskade von 20 solchen Foto-Einstellungen in 7 Sekunden (rot), das Paradox eines rasenden Stillstands. Der dynamische Höhepunkt wiederum läuft in länger werdenden Standbildern aus (gelb), Börsenhändler bedecken ihre Gesichter, halten die Hände vor die Augen.

 


Screenshot (Auszug): Annotationszeile in ELAN - die Breite der Kästchen entspricht der Einstellungslänge. 


Auch die Musik setzt langsam und ruhig ein und wird zunehmend dynamischer und schneller, der Film verwebt an dieser Stelle auf seiner Tonspur die ruhige, konstante Stimme des Interviewpartners mit den parataktischen Ausrufen von Nachrichtensprechern die ebenso wie die in der ABE zuvor als Vehikel einer Metapher eingeführte Glocke in dessen Pausen eingeblendet werden – während die Pausen immer länger werden, werden die einmontierten Satzteile lauter und schneller: Musik, Stimmen und Bildfolge treiben sich gegenseitig an.

 


ABE-CLIP

 

 

 




Die Körper  und Gesichter der Broker werden in dieser ABE wie in einem stop-motion Film zu einem gemeinsamen Körper animiert, der sich erst im ständigen Wechsel von Nachdenklichkeit und Angst einerseits und hektischer Panik andererseits befindet und schließlich mit Zeichen der Erschöpfung und Niedergeschlagenheit endet.

 


 

 

 




2.5. Fazit: Szenenbeschreibung

 


Die Szene reproduziert auf Mikroebene die Dramaturgie der Krise:

 


  • Andeutung / Warnung

ABE 1 = Wechsel aus Fokussierung und Ablenkung

  • Zuspitzung

ABE 2 = Zeitlicher Index der Verschlechterung (ironisch gebrochen)

  • Krise als Wendepunkt

ABE 3 = Extreme Verdichtung auf Schlagworte, Eskalation

  • (lähmende) Nachwirkung

ABE 4 = Rasender Stillstand

 

 

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