- Erstellt von Rosa Lia Gottwald, zuletzt geändert von Alessandra Origgi am 17.10.2017
Diese Analyse wurde im Rahmen des Kurses "Liebeslyrik der Renaissance und des Barock" von Valentina Ossing verfasst.
Text
Boiardo, Amorum libri tres, I 1
4
8
11
14
Amor, che me scaldava al suo bel sole
nel dolce tempo de mia età fiorita,
a ripensar ancor oggi me invita
quel che alora mi piacque, ora mi dole.
Così racolto ho ciò che il pensier fole
meco parlava a l'amorosa vita,
quando con voce or leta or sbigotita
formava sospirando le parole.
Ora de amara fede e dolci inganni
l'alma mia consumata, non che lassa,
fuge sdegnosa il puerile errore.
Ma certo chi nel fior de' soi primi anni
sanza caldo de amore il tempo passa,
se in vista è vivo, vivo è sanza core.
A
B
B
A
A
B
B
A
C
D
E
C
D
E
Prima quartina
Seconda quartina
Prima terzina
Seconda terzina
MATTEO MARIA BOIARDO: Amorum libri tres. Hg. von Tiziano Zanato. Torino: Einaudi, 1998, S. 6-8.
Textanalyse
Das vorliegende Gedicht stammt aus dem von Matteo Maria Boiardo verfassten canzoniere Amorum libri tres. Die aus drei Teilen bestehende Gedichtsammlung entstand um 1470 und gilt allgemein als eines der Hauptwerke des italienischen Dichters.
Jedes Buch besteht aus 60 Gedichten und enthält je 50 Sonette, fünf Kanzonen und fünf Balladen, die seiner Geliebten Antonia Caprara gewidmet sind. Das erste Buch handelt von der traumhaften Schönheit der Geliebten und vom gewaltigen Glück einer erwiderten Liebe. Im zweiten Buch wird die geliebte Frau zu seiner herzlosen Peinigerin und Verräterin, die seine grenzenlose Liebe und Zuneigung nicht wertschätzt und sich einem anderen Mann hingibt. Im dritten Buch beruhigt sich das Gemüt des verbitterten lyrischen Ichs wieder und es beginnt letztendlich, immer noch verletzt und Antonia immer noch liebend, eine Art spirituelle Reise, während derer es durch Besinnung und Reue um göttliche Vergebung bittet.
Man vermutet, dass sich die Erzählung im Zeitraum zwischen dem Frühjahr 1469 und 1471 abspielt. Was jedoch die Komposition des Werkes betrifft, so geht man davon aus, dass Amorum libri tres zwar in diesen beiden Jahren verfasst wurde, sich die Endbearbeitung jedoch noch bis in spätere Jahre (1476/7) zog.[1] Hierbei handelt es sich es sich um das erste Sonett aus dem ersten Buch, welches also als Einführung für das gesamte Amorum libri tres gilt.
Gegenstand des Sonetts ist ein Rückblick des lyrischen Ichs auf die Entwicklung seiner Gefühle und der Beziehung zu seiner Herzensdame Antonia Caprara. Das Sonett besitzt das klassische Reimschema ABBA ABBA CDE CDE, es besteht also aus 14 Versen, die sich in je zwei Quartette und zwei Terzette einteilen lassen. Auffallend an diesem Gedicht ist, dass es den ersten Teil eines Akrostichons bildet, welches sich aus den ersten Buchstaben des ersten Verses der ersten 14 Gedichte der Sammlung zusammensetzt: ANTONIA CAPRARA. Somit gibt der Dichter gleich am Anfang den Vor- und Nachnamen seiner Angebeteten preis, ein Vorgehen, welches für die damalige Zeit unüblich war, da es die öffentliche Bloßstellung der Betroffenen bedeutete.[2]
Was die vermittelte Stimmung betrifft, so unterscheidet sich diese Komposition von den anderen Gedichten aus dem ersten Buch. Während im liber primus Glück und Leidenschaft die vorherrschenden Gemütszustände sind, lässt sich hier eine Art Erschöpfung (V. 10 „alma mia consumata“) und Reue, aber auch Einsicht (V. 11 „fuge sdegnosa il puerile errore“) wahrnehmen. Der Grund dafür könnte sein, dass das einleitende Sonett höchstwahrscheinlich gegen Ende der Schreibphase, wenn nicht sogar als letztes verfasst wurde, wie dies üblicherweise der Fall war. Dieser Kontrast sticht nochmals im vierten Vers durch den Gebrauch einer Antithese hervor („quel che alora mi piacque, ora mi dole“) durch die deutlich wird, dass seit der Jugend des lyrischen Ichs (V. 2 „età fiorita“) viel Zeit vergangen ist und die beschriebenen und gefühlten Emotionen nicht mehr gegenwärtig sind. Die Isotopieebene der Zeit ist im Sonett durchweg zugegen, was dazu dient, die Diskrepanz zwischen dem alten und dem neuen lyrischen Ich und seinen Gefühlen hervorzuheben, ein Gegensatz, der auch durch die doppelte Antithese im neunten Vers verdeutlicht wird. Dass Boiardos canzoniere auf dem Modell Francesco Petrarcas beruht, ist im gesamten Amorum libri tres sowie auch in diesem Sonett sichtlich erkennbar, an dieser Stelle jedoch wird der drastische Unterschied zwischen dem Dichter und seinem Vorbild deutlich.
Während Petrarca von einer traurigen und undankbaren Liebe spricht, von einem Erlebnis, das ihm Scham bereitet und für das er den Leser um Vergebung bittet, so bezeichnet Boiardo das Gefühl der Verliebtheit als „dolci inganni“, was der Liebe, anders als bei Petrarca, eine positive Konnotation gibt. Die Liebe ist hier also nicht nur schmerzzufügend, sondern auch entzückend. Bei Boiardo lässt sich also ein gewisses Nachtrauern der Liebe finden, welches bei Petrarca fehlt.
Nichtsdestotrotz sind die Affinitäten zwischen den einleitenden Gedichten der jeweiligen Sammlungen der beiden Dichter unübersehbar. In beiden Fällen spricht das lyrische Ich in der Vergangenheit von seiner Lebenserfahrung; die Verliebtheit wird als ‚Jugendfehler‘ angesehen (V. 11 „puerile errore“ in Boiardo und V. 3 „giovenile errore“[3] in Petrarca), eine gewisse Scham resultiert aus dieser Erkenntnis. Ein weiteres Beispiel hierfür ist die oben schon erwähnte Antithese im vierten Vers des Gedichts, welche eine Imitation von Petrarcas „colle che mi piacesti, or mi rincresci“ darstellt.[4] Der Aspekt der Reue und des Bedauerns ist vielleicht die schwerwiegendste von Boiardo aus dem RVF aufgegriffene Thematik, an der sich der petrarkische Einfluss eindeutig erkennen lässt. Von Boiardo wird auch der Kontrast zwischen Lust und Vernunft aufgenommen, weshalb die Liebe als ‚verrückt‘ (v. 5 „fole“) bezeichnet wird. Die Liebe wird als natürlicher Instinkt verstanden, welchem nicht aus moralischen Gründen nachgetrauert wird, sondern der Hindernisse wegen, die von der Frau gestellt werden, und welche Leid und Bitterkeit verursachen. All dies weist darauf hin, dass, obwohl ein Dichter in die Fußstapfen des anderen tritt, ihre poetischen Persönlichkeiten und ideologischen Einstellungen von Grund auf unterschiedlich sind.[5]
Dies wird im letzten Terzett nochmal besonders hervorgehoben: Indem er die Liebe als ein unausweichliches, natürliches Phänomen beschreibt, ohne welches man nicht wirklich leben kann, verteidigt er die Liebe als solche und grenzt sich eindeutig von Petrarcas Modell ab. Ein Chiasmus, eine Anadiplose und die Antithese markieren im letzten Vers die Rechtfertigung der Liebe und somit die Abgrenzung von Petrarcas Poetik („se in vista è vivo, vivo è sanza core“).
Bibliografie
P r i m ä r l i t e r a t u r
BOIARDO, Matteo Maria, Amorum libri tres, hg. von Tiziano Zanato, Turin 1998.
PETRARCA, Francesco, Canzoniere. Rerum vulgarium fragmenta, hg. von Rosanna Bettarini, Turin 2005.
S e k u n d ä r l i t e r a t u r
BREGOLI-RUSSO, Mauda, Boiardo lirico, Madrid 1979.
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