- Erstellt von Rosa Lia Gottwald, zuletzt geändert von Alessandra Origgi am 15.11.2017
Diese Analyse wurde im Rahmen des Kurses "Historische Einführung in die lyrische Form: 2" von Rosa Lia Gottwald verfasst.
Text
Giacomo Leopardi, A Silvia
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Silvia, rimembri ancora
quel tempo della tua vita mortale,
quando beltà splendea
negli occhi tuoi ridenti e fuggitivi,
e tu, lieta e pensosa, il limitare
di gioventú salivi?
Sonavan le quiete
stanze, e le vie dintorno,
al tuo perpetuo canto,
allor che all’opre femminili intenta
sedevi, assai contenta
di quel vago avvenir che in mente avevi.
Era il maggio odoroso: e tu solevi
cosí menare il giorno.
Io gli studi leggiadri
talor lasciando e le sudate carte,
ove il tempo mio primo
e di me si spendea la miglior parte,
d’in su i veroni del paterno ostello
porgea gli orecchi al suon della tua voce,
ed alla man veloce
che percorrea la faticosa tela.
Mirava il ciel sereno,
le vie dorate e gli orti,
e quinci il mar da lungi, e quindi il monte.
Lingua mortal non dice
quel ch’io sentiva in seno.
Che pensieri soavi,
che speranze, che cori, o Silvia mia!
Quale allor ci apparia
la vita umana e il fato!
Quando sovviemmi di cotanta speme,
un affetto mi preme
acerbo e sconsolato,
e tornami a doler di mia sventura.
O natura, o natura,
perché non rendi poi
quel che prometti allor? perché di tanto
inganni i figli tuoi?
Tu, pria che l’erbe inaridisse il verno,
da chiuso morbo combattuta e vinta,
perivi, o tenerella. E non vedevi
il fior degli anni tuoi;
non ti molceva il core
la dolce lode or delle negre chiome,
or degli sguardi innamorati e schivi;
né teco le compagne ai dí festivi
ragionavan d’amore.
Anche pería fra poco
la speranza mia dolce: agli anni miei
anche negâro i fati
la giovanezza. Ahi, come,
come passata sei,
cara compagna dell’etá mia nova,
mia lacrimata speme!
questo è quel mondo? questi
i diletti, l’amor, l’opre, gli eventi
onde cotanto ragionammo insieme?
questa la sorte dell’umane genti?
All’apparir del vero
tu, misera, cadesti: e con la mano
la fredda morte ed una tomba ignuda
mostravi di lontano.
GIACOMO LEOPARDI: Canti. Hg. von Franco Gavazzeni und Maria Maddalena Lombardi. Milano: Rizzoli (BUR), 1998, S. 395-397.
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Einleitung
Die Geschichte der sog. canzone libera, die als Erfindung Giacomo Leopardis gilt, beginnt 1828 mit A Silvia. Während Leopardis erste Kanzonen noch als Variationen der klassischen canzoni petrarchesche und dantesche verstanden werden können,[1] bricht A Silvia mit jeder bis dahin bekannten metrischen Form. Diese canzone libera, die Leopardis freieste Schaffensphase einläutete, soll Gegenstand des vorliegenden Beitrags sein. Es werden sowohl die inhaltlichen, als auch die formalen Charakteristika und Besonderheiten von A Silvia erörtert und anhand konkreter Textbeispiele verdeutlicht. Hierbei soll die zusammenfassende Darstellung des Inhalts und der Form der Kanzone mit der analytischen Betrachtung derselben verwoben werden. Auch die in der Lyrik so wichtige Frage nach der Verknüpfung von Inhalt und Form soll Raum und zumindest in Ansätzen Antwort finden.
Textanalyse
Die traurige Geschichte, die A Silvia zugrunde liegt, lässt sich in aller Kürze zusammenfassen: Silvia, ein wunderschönes junges Mädchen, stirbt unvermutet an einer Krankheit. Das lyrische Ich, vermutlich ein Nachbar Silvias, bewundert die schöne Jugendliche und lässt sich bisweilen von seiner Arbeit ablenken, um ihrer Stimme zu lauschen. Als sie dann unerwartet in so jungen Jahren stirbt, ist der stille Beobachter erschüttert, gerät in eine tiefe Sinnkrise und wirft der Natur vor, dass sie ihre eigenen Kinder betrüge: „O natura, o natura, / Perchè non rendi poi / Quel che prometti allor? perchè di tanto / Inganni i figli tuoi?“[1] Die Antwort auf diese Frage fällt vernichtend aus: Das lyrische Ich spekuliert, dass der Tod, auch wenn er so plötzlich und ungerecht ist, offenbar das Schicksal der Menschen sei. Nichts anderes als die Wahrheit habe die junge Tote ihm offenbart, als sie starb: „All’apparir del vero / Tu, misera, cadesti [...]“ (V. 60-61).
Ob es eine reale „Vorlage“ für Silvia gab, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Eine weit verbreitete Theorie führt die erdichtete Figur Silvia auf Teresa Fattorini zurück,[2] die junge Tochter von Leopardis Kutscher in Recanati. Genau wie Silvia starb Teresa Fattorini in jungen Jahren an einer tödlichen Krankheit, vermutlich an Tuberkulose.[3]
Die Botschaft der melancholischen Kanzone scheint auf den ersten Blick eindeutig: Der Tod entzieht sich der menschlichen Gerechtigkeit. Er ereilt die Menschen zufällig, niemand ist vor ihm sicher, niemand kann ihn kommen sehen, nicht einmal junge, scheinbar vor Gesundheit und Schönheit strotzende Menschen. In seinem Zibaldone betont Leopardi die Bedeutung der Jugend als etwas Göttliches, Reines und Wunderschönes: „[U]na giovane dai 16 ai 18 anni ha nel suo viso, ne’ suoi moti, nelle sue voci, salti ec. un non so che di divino, che niente può agguagliare.”[4] Er vergleicht die Wirkung eines jungen Mädchens mit der einer Blume: „[...] quel fiore purissimo, intatto, freschissimo di gioventù, [...] quel primissimo fior della vita [...]“ (Zib., S. 4310). Ferrucci zufolge sind diese von Leopardi im Zibaldone gepriesenen Eigenschaften des Jugendalters auf die Figur Silvia übertragbar.[5] Tatsächlich gibt es auch im Gedicht selbst viele Hinweise auf die Jugend als idealen Zustand. Schon in der ersten Strophe betont das lyrische Ich die berauschende Schönheit von Silvia, die die Schwelle oder Grenze („il limitare“, V. 5) der Jugend erklimmt. Die Idee, dass es eine Grenze gibt, nach deren Überschreitung die Jugend unwiederbringlich verloren ist, unterstreicht zusätzlich, wie bedeutsam und einzigartig diese Zeit ist. Das lyrische Ich hat diese wichtigen Jahre seiner Jugend nach eigener Aussage mit Studien vergeudet: „Io gli studi leggiadri / Talor lasciando e le sudate carte, / Ove il tempo mio primo / E di me si spendea la miglior parte [...]“ (V. 15-18).
Dieses Göttliche und Reine der Jugend, das im ersten Teil des Gedichts zelebriert wird, macht den Tod Silvias im zweiten Teil umso tragischer. Keine gestandene Dame stirbt hier an Krankheit oder Alter, und es ist auch kein dramatischer Unfall oder gar Mord, der Silvia ums Leben bringt. Solche Fälle sind zwar gewiss ebenso tragisch, aber doch leichter zu akzeptieren, als die tückische, versteckte Krankheit („chiuso morbo“, V. 41), die das junge Mädchen ausgerechnet in seinen besten Jahren niederstreckt. Im Zibaldone hält Leopardi fest, dass Krankheiten, die einen Menschen Stück für Stück verändern und schließlich töten, den Hinterbliebenen für immer die gesunden und schönen Erinnerungen an den Toten rauben. Deshalb sei es weitaus weniger quälend, eine geliebte Person einfach sterben zu sehen „che il vederla deperire e trasformarsi nel corpo e nell’animo da malattia [...]“ (Zib., S. 479). Dem oben beschriebenen Motiv der blühenden Jugend wird als Bruch also der quälende Tod durch Krankheit gegenübergestellt. Aus diesem Grund ist Silvias Tod, anders als bspw. das Dahinscheiden einer älteren Dame oder eines Soldaten, für das lyrische Ich Betrug. Es ruft die Natur an („O natura, o natura“, V. 36) und wirft ihr vor, dass sie ihr Versprechen gebrochen habe. Dieses Versprechen sieht Silvias Bewunderer offenbar in der Schönheit, Reinheit und Göttlichkeit ihrer sorglosen Jugend, die wie die Verheißung eines langen, glücklichen Lebens wirkt – oder, im Sinne von Leopardis floraler Metapher (s. o.), wie eine blühende Knospe, die nie ganz zur Blume werden durfte. Angesichts des beschriebenen Betrugs verliert das lyrische Ich jede Hoffnung, mehr noch, Silvia selbst war seine Hoffnung („Mia lacrimata speme!“, V. 55). Somit stirbt in A Silvia nicht nur das bemitleidenswerte junge Mädchen, sondern gleichzeitig auch die Hoffnung des Dichters. Die Natur und das Leben, das sie schenkt, erweisen sich als Täuschung, die jederzeit zerstört werden kann. Tatsächlich ist dieser „kosmische“ Pessimismus, „der das menschliche Leid als existentiell, unüberwindbar und überzeitlich ansieht“,[6] typisch für Leopardi. Scheel stellt sogar fest, dass Leopardi diese existenzielle Hoffnungslosigkeit unter dem Begriff noia ins Italienische einführte wie etwa Pascal im 17. Jahrhundert den ennui ins Französische.[7] Neben einer poetischen Klage ist A Silvia deshalb auch ein Manifest dieses für Leopardi so typischen universellen Pessimismus.
[1] Leopardi, Giacomo, Canti, Florenz [1835] 21860, S. 66, V. 36-39.
[2] Vgl. bspw. Citati, Pietro, Leopardi, Mailand 2010, S. 345.
[3] Vgl. Brugnoli Giorgio & Rea, Roberto, Studi leopardiani, Pisa 2000, S. 61.
[4] Leopardi, Giacomo, Zibaldone, Rom 1997, S. 4310.
[5] Ferrucci, Carlo, „A Silvia“ [2003], in: Lectura Leopardiana. I quarantuno „Canti“ e „I nuovi credenti“, hg. v. A. Maglione, Venedig 2003, S. 395.
[6] Scherer, Ludger (Hg.), Letteratura italiana. Da Francesco d’Assisi a Paolo Giordano. Antologia, Stuttgart 2014.
[7] Vgl. Scheel, Hans Ludwig „Schmerz und existentielle Hoffnungslosigkeit in der Lyrik und im Denken Giacomo Leopardis“ [1989], in: Studi italo-tedeschi. Deutsch-italienische Studien, hg. v. Luigi Cotteri, Meran 1989, S. 26f.
Formal gliedert sich A Silvia in sechs unterschiedlich lange Strophen mit insgesamt 63 ebenfalls unterschiedlich langen Versen. Auf den ersten Blick fällt besonders die inhaltliche Gliederung auf der Ebene der Strophen ins Auge. In den ersten drei stanze errichtet Leopardi das Idyll und Ideal rund um die schöne jugendliche Silvia, in der vierten Strophe folgt dann der bereits in Kap. 2.1 erwähnte Bruch: Das Schöne, Reine, Junge wird dem Leben entrissen. Es ist im Grunde also der erste Teil der Kanzone, welcher die bezaubernde Wirkung des vom Verfasser bewusst als canto klassifizierten Gedichts entfaltet.[1]
Auf der Versebene ist festzustellen, dass Leopardi zwar ausschließlich die „klassischen“ Sieben- und Elfsilbler verwendet, diese jedoch ohne Regelmäßigkeit und mit einer sehr freien Reimstruktur anordnet. 36 der 63 Verse reimen sich frei, die übrigen sind reimlos. Die Verslänge (alternierende Sieben- und Elfsilbler) sowie das unregelmäßige Reimschema sind typisch für die canzone libera. Als Beispiel soll hier das von Bertone eruierte Reimschema abcDdEEb der zweiten Strophe dienen.[2] Hier zeigt sich auch eines der wenigen erkennbaren Muster des Gedichts, und zwar die Beschaffenheit des jeweils letzten Verses der sechs stanze. Dieser ist immer ein Siebensilbler und bildet einen Reim mit einem der vorangehenden Verse derselben Strophe (kursiv im obigen Reimschema): „fuggitivi“ (V. 4) und „salivi“ (V. 6) in der ersten, „dintorno“ (V. 8) und „giorno“ (V. 14) in der zweiten, „sereno“ (V. 23) und „seno“ (V. 27) in der dritten, „poi“ (V. 37) und „tuoi“ (V. 39) in der vierten, „core“ (V. 44) und „amore“ (V. 48) in der fünften und „mano“ (V. 61) und „lontano“ (V. 63) in der sechsten stanza. Hier fällt sofort die geschickte Verknüpfung von Form und Inhalt auf, denn die Wörter, die einen Reim bilden, harmonieren meist nicht nur metrisch, sondern auch inhaltlich, z. B. „core“ (V. 44) und „amore“ (V. 48). Auffällig ist des Weiteren das wiederholte Auftreten des Lautes vi, der an den Namen Silvia erinnern soll: „vita“ (V. 2, „fuggitivi“ (V. 4), „salivi“ (V. 6) usf.
Neben zahlreichen Alliterationen (z. B. t und l in V. 2), gelegentlichen Anaphern (che in V. 28-29) finden sich auf der rhetorischen Ebene u. a. auch Metaphern (bspw. „faticosa tela“, V. 22) und Personifikationen, die vor allem dazu dienen, die Lebendigkeit Silvias fühlbarer zu machen („Sonavan le quiete / Stanze, e le vie dintorno“, V. 7-8). Zusammenfassend lässt sich feststellen, das fast alle metrischen bzw. formalen Phänomene, die A Silvia ausmachen, der Verstärkung des Inhalts dienen: Die bereits in Kap. 2.1 erwähnte Desillusionierung der Heiterkeit und Harmonie in der Mitte des Gedichts wird durch eine gezielte formale Gliederung unterstützt und auch rhetorische Figuren sowie kleine metrische und klangliche Besonderheiten wie bspw. das ständige Wiederauftauchen des Klanges vi dienen stets der Verdeutlichung des Inhalts. Ferrucci spricht von einer „capacità di ricomporre e fermare il vissuto in forme che in ultima istanza rimangono però sempre illusorie [...].“[3] Durch diese Fähigkeit Leopardis werden die einzelnen Elemente der Kanzone zu einem kohärenten und gleichzeitig kontrastreichen Kunstwerk verbunden.
Schlussbetrachtung
Als erste canzone libera bildet A Silvia einen ganz besonderen Einschnitt im Schaffen Leopardis. Diese freie Kanzone, die von einer jung Verstorbenen mit Namen Silvia handelt, ist in vielerlei Hinsicht typisch für Leopardis zweite Schaffensphase nach seinem silenzio poetico. Ob Silvia wirklich von Teresa Fattorini inspiriert war, bleibt unklar. Fest steht jedoch, dass sie für Leopardi offenbar Ausdruck einer weitreichenden kosmischen Ungerechtigkeit und Sinnlosigkeit war. Dass ein blutjunges Mädchen so früh an einer Krankheit sterben sollte, stürzte das lyrische Ich – und vermutlich auch Leopardi – in eine Sinnkrise. Diese Ungerechtigkeit bezieht sich freilich nicht allein auf die Tote, sondern vor allem auch auf die Hinterbliebenen. Schon als Kind wusste Leopardi, dass er jene, die tot sind, wahrscheinlich nie wiedersehen würde (Zib., S. 644). Die in der vorliegenden Arbeit untersuchte Kanzone ist deshalb mehr als nur eine poetische Klage:
La poesia si presenta così come l’unico strumento di salvezza di ciò che altrimenti è caduco e spento per sempre, l’unico modo per richiamare alla vita ciò che sul piano razionale, di verità, è per sempre distrutto.[1]
A Silvia ist folglich nicht nur ein melancholisches, poetisches Kunstwerk, das Form und Inhalt gekonnt verbindet und dem Lesenden die Endlichkeit alles Seienden vor Augen führt, sondern nicht weniger als der Versuch der poetischen Rettung und Erhaltung eines toten Mädchens. Dass dieses Perpetuum mobile eines längst vergangenen Lebens noch heute beschäftigt und berührt, zeigt, dass dieser Versuch offenbar geglückt ist. Silvia lebt in der Vorstellung jener, die ihr Gedicht kennen, vermutlich noch viele Jahrhunderte weiter, nicht zuletzt dank ihres von Leopardi sprachlich so künstlerisch und lebendig gezeichneten Bildes.
Bibliografie
P r i m ä r l i t e r a t u r
LEOPARDI, Giacomo, Canti, Florenz [1835] 21860.
LEOPARDI, Giacomo, Canti, hg. von Franco Gavazzeni, Maria Maddalena Lombardi, Mailand 1998.
LEOPARDI, Giacomo, Zibaldone, Rom 1997.
S e k u n d ä r l i t e r a t u r
BINNI, Walter, Lezioni leopardiane, Florenz 1994.
BRUGNOLI Giorgio & Rea, Roberto, Studi leopardiani, Pisa 2000.
CITATI, Pietro, Leopardi, Mailand 2010.
FERRUCCI, Carlo, „A Silvia“ [2003], in: Lectura Leopardiana. I quarantuno „Canti“ e „I nuovi credenti“, hg. v. A. Maglione, Venedig 2003.
SCHEEL, Hans Ludwig „Schmerz und existentielle Hoffnungslosigkeit in der Lyrik und im Denken Giacomo Leopardis“ [1989], in: Studi italo-tedeschi. Deutsch-italienische Studien, hg. v. Luigi Cotteri, Meran 1989.
Ü b e r b l i c k s l i t e r a t u r & N a c h s c h l a g e w e r k e
BERTONE, Giorgio, Breve dizionario di metrica italiana, Turin 1999.
LAVEZZI, Gianfranca, Manuale di metrica italiana, Rom 1996.
SCHERER, Ludger (Hg.), Letteratura italiana. Da Francesco d’Assisi a Paolo Giordano. Antologia, Stuttgart 2014.
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