Wenn zwei Vokale innerhalb ein und desselben Wortes aufeinandertreffen, bilden sie im Normalfall eine einzige metrische Silbe (z.B. buo-no, guer-ra, au-ra). Diese ,Verschmelzungsfigur‘, die mit dem Fachterminus Synärese bezeichnet wird, lässt aber mehrere Ausnahmen zu: Wenn der Gegenfall eintritt und die jeweiligen Vokalverbindungen zweisilbig ausgesprochen werden, spricht man von einer Diärese, welche gelegentlich mit einem Trema (ä, ë, ï, ö, ü) graphisch markiert werden kann. Der Überschaubarkeit halber werden im Folgenden die am häufigsten festgestellten Ausnahmefälle einzeln berücksichtigt, bei denen man prinzipiell mit der Möglichkeit einer Diärese rechnen sollte.
Diärese bei der Vokalverbindung unbetonter Vokal + Tonvokal (nessi ascendenti)
Bei unbetontem a, e, o + Tonvokal stellt die Diärese die Regel dar, d. h. die zusammenstoßenden Vokale werden normalerweise in zwei aufeinanderfolgende Silben getrennt (z.B. pa-e-se, be-a-to, pa-u-ra). Gegenbeispiele sind hier äußerst selten. Wenn hingegen an der ersten, unbetonten Stelle der Verbindung die Halbkonsonanten i und u auftreten, ist der Gebrauch unterschiedlicher, die Diärese überwiegt aber gegenüber der Synärese.
Diärese bei der Vokalverbindung Tonvokal + unbetonter Vokal (nessi discendenti) im Wortauslaut und am Versende
Entscheidend für die Silbenzählung bei Vokalzusammenstößen im Wortinnern ist auch der prosodische Kontext: Dieselbe auslautende Vokalsequenz Tonvokal + unbetonter Vokal kann als ein- oder zweisilbig betrachtet werden, je nachdem, ob das Wort innerhalb des Verses oder am Versende vorkommt.
Diese Abhängigkeit vom prosodischen Kontext hat sich schon bei Petrarca als Konvention herauskristallisiert, wie folgende Beispiele deutlich machen:
- Voi ch'ascoltate in rime sparse il suono (RVF 1, V. 1)
Voi1 ch’a2scol3ta4te^in5 ri6me7 spar8 se^il9 suo10no11 (das Zeichen ^ markiert die eintretenden Synalöphen):
Am Versanfang gilt voi als einsilbig, d. h. die Vokale o (betont) + i (unbetont) bilden eine einzige metrische Silbe;
- Quando io movo i sospiri a chiamar voi (RVF 5, V. 1)
Quan1do^io2 mo3vo^i4 so5spi6ri^a7 chia8mar9 vo10i11 (das Zeichen ^ markiert die eintretenden Synalöphen)
Am Versende wird voi als zweisilbig behandelt, d. h. die Vokale o (betont) + i (unbetont) werden in zwei aufeinanderfolgende Silben getrennt. Einsilbig ist hingegen das Pronomen io, welches ebenfalls aus einer Vokalverbindung Tonvokal + unbetonter Vokal besteht, sich allerdings im Inneren des Verses befindet.
Diärese bei unbetonten Vokalverbindungen
Obwohl nicht akzentuierte Vokalfolgen meistens einer einzigen metrischen Silbe zugeordnet werden (die Synärese kommt also am üblichsten vor), muss im Prinzip bei der Silbenzählung die Möglichkeit einer Diärese in Betracht gezogen werden. Das ist vor allem bei der gelehrten Dichtung der Fall: Da auf Latein, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, aufeinandertreffende Vokale immer als getrennte Silben zählen, kann die Diärese in Wörtern lateinischen Ursprungs auf eine etymologisch ,korrekte‘, antikisierende Aussprache hinweisen und dadurch eine gehobene Stilebene signalisieren (z.B. le-ti-zï-a, con-ti-nü-o, mar-mo-rë-a; unterstrichen sind hier die jeweils betonten Silben). Im Hinblick auf den Umgang mit Vokalzusammenstößen kann außerdem ein abgeleitetes Wort auf das Stammwort zurückgeführt werden und dessen Vokaltrennung übernehmen: z.B. der Eigenname Beatrice, bei dem die Vokalverbindung e+o in einer unbetonten Silbe vorkommt und dementsprechend zu einer Synärese führen sollte, kann mit dem etymologisch dahinten steckenden Adjektiv beato (bei dem die Verbindung unbetonter e + betonter a, wie oben erwähnt, eine Diärese eintreten lässt) wieder in Zusammenhang gebracht und dadurch ebenfalls als diäretisch behandelt werden.