Diese Musteranalyse wurde im Rahmen des Kurses "Liebeslyrik der Renaissance und des Barock" von Alessandra Origgi verfasst.
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Petrarca, RVF 61
Benedetto sia ’l giorno, e ’l mese, et l’anno, et benedetto il primo dolce affanno Benedette le voci tante ch’io et benedette sian tutte le carte A A C E Prima quartina Seconda quartina Prima terzina Seconda terzina FRANCESCO PETRARCA: Canzoniere. Hg. von Marco Santagata. Milano: Mondadori, 1996, S. 313-316. |
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„Benedetto sia ’l giorno, e ’l mese, et l’anno” ist das 61. Gedicht der Gedichtsammlung Rerum Vulgarium Fragmenta (Canzoniere) von Francesco Petrarca (1304-1374), die Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden ist. Der Canzoniere erzählt die Geschichte der Liebe des lyrischen Ichs zu seiner Angebeteten, Madonna Laura, und lässt sich in zwei Teile gliedern: Der erste Teil behandelt die Zeit vor, der zweite Teil die Zeit nach dem Tod Lauras (in vita und in morte). Das hier zu besprechende Im ersten Terzett zeigen sich die Auswirkungender schmerzhaften Liebe auf das lyrische Ich: Es weint, seufzt und begehrt die Frau. Die psychische Zerrissenheit des lyrischen Ich und der Verlust des seelischen Gleichgewichts wird durch das Enjambement zwischen den Versen 9 und 10 ausgedrückt: Das Personalpronomen wird vom Verb getrennt („io / […] ho sparte“), ebenso das Objekt vom Verb („voci tante […] / o sparte“). Das Partizip „sparte“ weist auf die „rime sparse“ (vgl. RVF 1[4]: „Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono / di quei sospiri ond’io nudriva ’l core“, V. 1-2), d. h. auf die Gedichte des Canzoniere hin; eine enge, kausale Beziehung zwischen dem Liebesschmerz, der Zerstreuung des Innenlebens des lyrischen Ich und der dichterischen Aktivität wird erstmals in diesem Gedicht angedeutet; es handelt sich dabei um ein Thema, das im Canzoniere mehrmals behandelt wird (so besonders maßgebend in RVF 1 u. a.). Im 11. Vers werden dank der parataktischen Konstruktion die Einzelelemente, die die Wirkungen der Liebe beschreiben, betont; es handelt sich bei der hier dargestellten Liebe geradezu um eine Art Obsession, die im ganzen Gedicht inhaltlich und formal ausgedrückt wird, und das lyrische Ich in den Wahnsinn zu treiben scheint. Im letzten Terzett taucht die Isotopie des Schreibens bzw. des Dichtens auf: Es geht um die „carte“, die Blätter, auf die der Dichter seine Gedichte geschrieben hat; es handelt sich dabei um die Gedichte, die aus den Seufzern, den Tränen, dem Verlangen und den Schmerzen des Dichters resultieren. Im 13. Vers wird der erhoffte Lohn für das Dichten benannt: die gloria, der Ruhm des Dichters. Zum Schluss wird das Denken („pensier“) selbst des lyrischen Ichs genannt, das sich allein um die Frau dreht („e ’l pensier mio, / ch’è sol di lei”). Fortlaufend wird im Sonett eine allmähliche Abstraktion der beschriebenen Zustände und Gefühle erkennbar: Zuerst wird Bezug auf die Liebe genommen, auf einen konkreten, spezifischen Moment und Ort und auf zwei konkrete Personen; dann werden die Auswirkungen der Liebe, die Gefühle des Schmerzes und der Freude thematisiert; danach wird die Dichtung in ihrer konkreten Materialität evoziert („carte“); in krassem Gegensatz hierzu steht die prononciert immaterielle geistige Grundlage seines Dichtens („pensier mio“). Diese durch die zunehmende thematische Abstraktion charakterisierte Klimax will gleichzeitig verdeutlichen, dass das Dichten aus der konkreten und dann sublimierten Erfahrung der Liebe entsteht. Die Frau ist trotzdem das letzte Thema, das im Schlussvers genannt wird. Dieses kausale Verhältnis wird auch durch die Temporaldeixis zum Ausdruck gebracht: Das zeitliche Verhältnis ist zuerst vorzeitig, d.h. es wird die Zeit des innamoramento ins Gedächtnis gerufen („fui giunto“, „ebbi“, „fui punto“, „o sparte“); nur im letzten Terzett ist das Verhältnis gleichzeitig, weil das lyrische Ich gerade dabei ist, seine Gedichte zu schreiben und seine Liebe zu zelebrieren („acquisto“, è“, „à“). Innamoramento und Dichten sind somit temporal getrennt, kausal jedoch eng verbunden. Sehr evident in der Struktur der Dichtung ist die Anapher von „benedetto“ am Anfang der Quartette und von „benedette“ am Anfang der Terzette; die Anapher wird von der polysyndetischen Struktur der Verse begleitet, in denen die Elemente verbunden werden. Es handelt sich um eine Eingangsformel,[5] die typisch für die mittelalterliche provenzalische Tradition der Seligpreisungsdichtung („ben aia…“); als solches konfiguriert sich auch RVF 61 (sonetto delle benedizioni). Es waren Gedichte, die das Jubiläum der Liebe markierten. Im Canzoniere lässt sich die Formel auch im RVF 13 finden („I’ benedico il loco e ’l tempo et l’ora / che sì alto miraron gli occhi mei,“, VV. 5-6). Die Tradition der Seligpreisungen ist nicht nur provenzalisch, sondern auch spezifisch religiös; bei Petrarca ergibt sich oft die Verbindung zwischen persönlichen Ereignissen und mythischen oder religiösen Erfahrungen.[6] Die Zeit übt in diesem Kontext eine besondere Funktion aus: Einerseits betont das lyrische Ich einen bestimmten Zeitpunkt, seitdem sein Leben sich vollkommen verändert hat; andererseits wird das Jubiläum eines Ereignisses zelebriert, d.h. es wird die Zirkularität der Zeit ans Licht gebracht – eine Zirkularität, die mit einer tieferen Bedeutung der persönlichen Erfahrung des lyrischen Ichs eng verbunden ist. Singularität und Kontinuität der Liebeserfahrung fallen in eins. Die geradezu überschwängliche Seligpreisung der Liebe sollte jedoch vor dem Hintergrund der Makrostruktur des Canzoniere differenziert betrachtet werden: Denn das folgende Gedicht, RVF 62 („Padre del ciel, dopo i perduti giorni“), kehrt die Botschaft von 61 um: das Jubiläum des innamoramento wird stigmatisiert, die im RVF exaltierten Gegenstände werden negativ konnotiert („benedetto giorno“ → „perduti giorni“, „dolce affanno“ → „non degno affanno“ usw.[7]) Das Reimschema lautet: ABBA ABBA (umschlingender |
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P r i m ä r l i t e r a t u r PETRARCA, Francesco, Canzoniere, hg. von Marco Santagata, Mailand 1996. PETRARCA, Francesco, Canzoniere. Rerum vulgarium fragmenta, hg. von Rosanna Bettarini, Turin 2005. S e k u n d ä r l i t e r a t u rLOMMATZSCH, Erhard, Benedetto sia ’l giorno e ’l mese e l’ anno, in «Zeitschrift für romanische Philologie» 43 (1923), S. 675-690. PASTORE, Stocchi Manlio, I sonetti III e LXI, in «Lectura Petrarce» 1981, S. 4-23. PICONE, Michelangelo, Petrarca fra patimento amoroso e pentimento religioso (RVF 61-69), in Il Canzoniere. Lettura micro e macrotestuale, hg. von Michelangelo Picone, Ravenna 2007, S. 161-182. |