Was ist Dichtung? So banal diese Frage auch klingen mag, ist es dennoch sehr schwer, eine allgemeingültige Antwort darauf zu finden. Auf der formalen Ebene lässt sich aber doch ein wesentliches Merkmal feststellen, das die Poesie von der Prosa grundsätzlich unterscheidet: der Vers. Während dem Prosa-Diskurs in erster Linie logisch-syntaktische Unterteilungskriterien zugrunde liegen, erfolgt die Segmentierung des Sprachmaterials in dichterischen Texten anhand einer – mehr oder weniger kodifizierten – Versstruktur.

Mit dem Begriff 'Vers' (lat. versus, 'Wendung, Kehre'; it. verso) wird ein primär nach formalen Prinzipien aufgebautes Sprachsegment bezeichnet, welches eine variable Anzahl an Wörtern umfassen kann. Auf der graphischen Ebene wird der Vers i. d. R. durch einen Zeilenbruch (it. a capo) signalisiert: Aus diesem Grund werden Verse oftmals auch Verszeilen genannt.

Da bei der Gliederung der Versrede rein formale, kunst- und ausdrucksorientierte Kriterien eine entscheidendere Rolle als logisch-syntaktische Regeln spielen, müssen metrische und syntaktische Einheiten (d. h. Verse und Sätze bzw. Syntagmen) nicht notwendig miteinander übereinstimmen. Das Übergreifen einer Satz- bzw. Sinneinheit über das Versende hinaus auf den folgenden Vers, d. h. das Nichtzusammenfallen von metrischer und syntaktischer Pausensetzung, wird im Fachlexikon als enjambement (auf Italienisch gelegentlich auch inarcatura) bezeichnet. Enjambements kommen in der italienischen Dichtung sehr häufig vor und werden gerne als semantisch aufgeladene Stilmittel zur emphatischen bzw. pathossteigernden Hervorhebung von Schlüsselwörtern (die über die Versbrechung an Relevanz gewinnen) eingesetzt.

Beispiele von enjambements

Die Präsenz von Versen als bedeutungstragende Grundeinheiten der gebundenen Rede lässt sich im Prinzip sprach- und kulturübergreifend nachweisen. Sprach- und kulturabhängig ist aber die prosodische Struktur der Verse, d. h. die Art und Weise, wie Verse in dichterischen Texten zusammengesetzt werden. Im Allgemeinen lässt sich zwischen drei grundlegenden Versprinzipien unterscheiden:

  • das quantitierende (bzw. silbenmessende) Versprinzip: Der Versrhythmus entsteht durch den regelmäßigen Wechsel von langen und kurzen Silben, basiert also auf deren Quantität bzw. Sprechdauerzeit. Als bestimmend gilt das quantitierende Versprinzip z.B. in der altgriechischen und lateinischen Dichtung;
  • das akzentuierende (bzw. silbenwägende) Versprinzip: Der Versrhythmus entsteht durch den regelmäßigen Wechsel von Hebungen und Senkungen, welche sich aus der Abfolge von betonten und unbetonten Silben ergeben. Anders als in der antiken Metrik, lässt sich in der akzentuierenden Verslehre, an der sich u.a. die deutsche Dichtung orientiert, die Übereinstimmung von Vers- und Sprachbetonung feststellen;
  • das silbenzählende Versprinzip: Das Versmaß bestimmt sich nach der Silbenzahl, unabhängig davon, wie viele Silben darunter akzentuiert sind und in welcher Reihenfolge sich betonte und unbetonte Silben abwechseln. Die romanischen Literaturen folgen grundsätzlich diesem Prinzip des Versbaus. Die italienische Metrik bildet aber dabei einen Sonderfall: Neben der Silbenzahl kommt auch dem Akzent (insbesondere der letzten Tonstelle) eine beträchtliche Rolle bei der Bestimmung der Versart zu. Demzufolge wäre es korrekter, von einem silbenzählend-akzentuierenden Versprinzip als Grundlage der italienischen Verslehre zu sprechen.

 

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Vers

Metrische Silbenzählung

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