- Erstellt von Rosa Lia Gottwald, zuletzt geändert von Alice Spinelli am 13.10.2017
Verso libero
Der verso libero ist eine moderne lyrische Form, die vor allem ab dem späten 19. Jh. und im gesamten 20. Jh. sehr populär war. Die Ursprünge des verso libero finden sich in der französischen Literatur des späten 19. Jhs., genauer gesagt um 1887, als der französische Schriftsteller Gustave Kahn ein Gedicht im sog. vers libre verfasste, dessen Form frei von zuvor obligatorischen Konventionen (bspw. Anzahl der Silben, Reimschema, Vers-/ Strophenlänge und -anzahl und Versmaß) war. Der vers libre setzte sich daraufhin als eine Dominante der französischen Literatur durch und gelangte schließlich auch in die italienische Literatur. Ein weiterer Faktor, der Einfluss auf die italienische Version des vers libre hatte, war außerdem die englischsprachige Literatur des 19. Jhs. des amerikanischen Schriftstellers Walt Whitman, die von sehr langen Versen mit variabler Silbenzahl, aber überwiegend regelmäßiger Betonung geprägt war und somit eine Art rhythmischer Prosa darstellen. Die Verse Whitmans wurden durch ihre Ähnlichkeit zu Bibelversen auch versicle genannt und dienten als Inspiration vieler italienischer Schriftsteller. Auch wenn beide Einflüsse die Tendenz der italienischen Literatur in dieselbe Richtung lenkten, haben sie doch sehr unterschiedliche, fast schon gegensätzliche Ansprüche an ihren Ausdruck: Auf der einen Seite versucht die französische Literatur den Aspekt des Rhythmisch-Musikalischen zu vertiefen, auf der anderen Seite ist der Anspruch Whitmans Poesie und Prosa sich gegenseitig anzunähern.
Aufbau
Die metrica liberata erhält ihren Namen durch ihre Befreiung von jeglichen traditionell- vorgegebener Formen bezüglich der Metrik, die nun der Autor frei nach der Semantik wählt. Durch die Freiheit der Metrik kann kein typischer Aufbau bestimmt werden, jedoch gibt es einige Charakteristika, die viele lyrische Werke des verso libero gemeinsam haben und die im Folgenden genannt werden sollen.
Zusätzlich wird in der Literaturwissenschaft der verso libero in zwei Typologien aufgeteilt: Die allusività einerseits meint teilweise auf Modelle der traditionellen Metrik zurückzuführende Verse, die jedoch soweit abgewandelt wurden, dass sie den versi liberi zugeordnet und als solche behandelt werden. Unter ritmicità andererseits versteht man Verse, die nicht auf Modelle der traditionellen Metrik zurückzuführen werden können.
Dieser Typ macht seine Abstammung mithilfe Anspielungen auf das traditionelle, metrische Repertoire deutlich, die im Folgenden näher betrachtet werden.
Polimetria
Teilweise auf Modelle der traditionellen Metrik zurückzuführende Verse, die jedoch soweit abgewandelt wurden, dass sie den versi liberi zugeordnet und als solche behandelt werden.
Anisosillabismo
Verse unterschiedlicher Silbenzahl, die nicht auf Modelle der traditionellen Metrik zurückgeführt werden können.
Verso lungo composto
Bezeichnung für aus zwei Versen in meist traditioneller Länge zusammengesetzte Verse, die die Länge des endecasillabo überschreiten. Die Forschung sieht den sog. Carduccianischen Hexameter als Vorläufer dieser Verse an.
Verso lungo liberato
Verse, die von der „metrica barbara“ beeinflusst wurden und die auf dem Rhythmus, d.h. der Regelmäßigkeit des Ictus, basieren. Diese Verse finden ihren Ursprung in den tredecasillabi von Govoni, dessen Verse um zwei Silben verlängerte endecasillabi mit regelmäßigem, rhythmischen Schema waren.
Dieser Typ wird durch die Ablehnung der traditionellen Metrik charakterisiert, wodurch ein rhythmisches Prinzip Gedichten dieses Typus zugrunde liegen. Es wird nochmals in zwei Untertypen unterteilt:
a) reine, rhythmische Dominanz
b) (rhythmisch) – syntaktische Dominanz
Verso ritmico
Diese Verse basieren auf einer konstanten Wiederholung eines Reimschemas, das weder einem traditionellen Schema, noch dem isosillabismo (keine Variation der Verslängen) zuzuordnen wäre:
a) Vers basiert auf drei Elementen, die wiederholt werden (z. B. betont-unbetont-betont).
b) Sehr lange Verse mit einheitlichen Rhythmus (z. B. bei Pavese).
c) Der verso accentativo mit (fast) regelmäßigem Ictus immer auf denselben Silben eines Verses.
Verso ritmico-sintattico
Dieser Vers wird nicht von einem regelmäßigen Rhythmus bestimmt, sondern von dem Rhythmus des Satzes.
a) Der verso-frase ist ein prosaischer Vers, dessen poetischer Charakter durch typografische Konventionen (z. B. Absätze) deutlich wird.
b) Unter den Begriff verso sintattico fallen alle Verse, die durch ihre Unregelmäßigkeit und Willkür keiner anderen Kategorie zugeordnet werden können. Auch sie sind durch typografische Konventionen als poetischer Text gekennzeichnet.
Beispiel
Giuseppe Ungaretti: Fratelli (aus: L'Allegria)
Fratelli
Mariano il 15 luglio 1916
Di che reggimento siete
fratelli?
Parola tremante
nella notte
Foglia appena nata
Nell’aria spasimante
involontaria rivolta
dell’uomo presente alla sua
fragilità
Fratelli
GIUSEPPE UNGARETTI: Vita d'un uomo. Tutte le poesie. Hg. von Leone Piccioni. Milano: Mondadori, 1969, S. 39.
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