- Erstellt von Alessandra Origgi, zuletzt geändert von Rosa Lia Gottwald am 07.05.2017
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Überblick zum Versbau
Wie bereits angedeutet, zeichnet sich der italienische Vers gemäß dem silbenzählend-akzentuierendem Bauprinzip (metrica sillabico-accentuativa) durch das Zusammenspiel von zwei grundlegenden Kriterien aus: (1) Anzahl der Silben und (2) Position der letzten betonten Silbe. Im Folgenden soll auf beide Kriterien etwas detaillierter eingegangen werden. Anschließend wird eine tabellarische Übersicht über die sich daraus ergebenden Versarten geboten, welche in der italienischen Dichtungstradition einen mehr oder weniger regelmäßigen Gebrauch gefunden haben.
1. Erstes Prinzip des Versbaus: die Anzahl der Silben
Anders als in der quantitierenden Metrik der Antike oder auch im Deutschen, wo der Vers aus einer geregelten Wiederholung und Abfolge von mehrsilbigen Versfüßen (Trochäus, Daktylus, Jambus, usw.) hervorgeht, beruht der Vers in den romanischen Sprachen auf der Silbe als kleinster strukturbildender Einheit bzw. modular kombinierbarem Bauelement. In der italienischen Dichtung hat sich seit dem Mittelalter das Prinzip des Isosyllabismus (isosillabismo) durchgesetzt: Dementsprechend werden Verse, die dieselbe Silbenzahl aufweisen, derselben Versart zugeordnet, unabhängig davon, ob ihnen ähnliche oder unterschiedliche Rhythmusmuster zugrunde liegen. Auch die Benennung der verschiedenen Versarten erfolgt nach der Anzahl der Silben: endecasillabo (,Elfsilbler‘), settenario (,Siebensilbler‘), usw.
Die richtige Identifizierung der Silben im Verszusammenhang bildet also eine unerlässliche Voraussetzung für die Bestimmung des Versmaßes – wobei im dichterischen Sprachgebrauch mit ,poetischen Lizenzen‘, d.h. mit relativ gewöhnlichen Abweichungen von den Maßstäben der Normalsprache zu rechnen ist. Einen besonders beachtenswerten Sonderfall bei der metrischen Silbenzählung stellt das Aufeinandertreffen von Vokalen innerhalb des Wortes, bei der Wortfolge oder sogar bei der Versfolge dar: Aufgrund der unter bestimmten Umständen oftmals eintretenden Vokalverschleifungen ist es durchaus möglich, dass metrische (d.h. zur Versbildung künstlerisch zusammengefügte) Silben den grammatischen Silben nicht entsprechen.
Diese metrischen Besonderheiten ...
... können nicht unerhebliche Schwierigkeiten bei der Erkennung des Versmaßes bereiten. Deswegen empfehlen wir Ihnen, sich mit den Grundregeln zur Silbentrennung vertraut zu machen und dazu Basiskenntnisse über die verschiedenen Möglichkeiten des poetischen Umgangs mit Vokalzusammenstößen (Synärese vs. Diärese, Synalöphe vs. Dialöphe, Synaphie und Kompensation) zu erwerben, bevor Sie hier unten weiterlesen. [jeweils mit entsprechenden Links!].
2. Zweites Prinzip des Versbaus: die Position der letzten betonten Silbe
Obwohl die Silbenzahl als Grundprinzip der italienischen Prosodie gilt, trägt daneben auch der Akzent (accento, in der Fachsprache gelegentlich auch als ictus bezeichnet) zur Bestimmung der Versart bei.
„In italiano l’accento è la caratteristica per cui una sillaba è articolata con più energia delle altre (accento di intensità, o dinamico): questa si dice tonica, le altre si dicono atone.“
(Beltrami 1996, S. 53).
Auf die letzte betonte Silbe (sillaba tonica) folgt normalerweise in italienischen
Versen noch eine unbetonte Silbe: Dies entspricht dem üblichen Betonungsmuster
der italienischen Sprache, die – im Unterschied zum Deutschen oder auch zum
Französischen – eine große Mehrzahl an parole piane (d.h. auf der vorletzten Silbe
betonten Wörtern: z.B. amore, vita, straordinariamente, vedere, usw.) aufweist.
Aus diesem Sprachmerkmal hat sich eine metrische Konvention heraus entwickelt:
Der verso piano (d.h. der Vers, der mit einer parola piana schließt) bildet dabei den
prosodischen Normaltyp der italienischen Dichtung, und nach diesem Normaltyp
richtet sich die metrische Silbenzählung auch bei anders betonten Versenden. Denn
das Italienische kennt auch parole tronche (tronco: ,abgebrochen, abgeschlagen‘),
bei denen der Akzent auf die letzte Silbe fällt (z.B. così, felicità), sowie parole
sdrucciole (sdrucciolare: ,gleiten‘), die dagegen auf der vorvorletzten Silben betont
sind (z.B. possibile, vincere). Befinden sich diese Wörter am Versende, erfolgt
allerdings die Zuordnung zur Versart immer noch gemäß dem prosodischen
Grundmuster des verso piano. Das bedeutet: Die Versart ergibt sich aus der Position
der letzten betonten Silbe, der noch eine Silbe konventionell hinzugezählt wird –
unabhängig davon, ob und wie viele weitere Wortsilben tatsächlich folgen.
In diesem Sinne ist die Tonstelle am Versende (Hauptakzent bzw. accento principale)
noch entscheidender als die bloße Silbenzahl: Ist etwa die letzte betonte Silbe die
zehnte des Verses, handelt es sich immer um einen Elfsilbler (endecasillabo), egal, ob
in der Tat – wie im Normalfall – eine unbetonte Silbe hinzu kommt (endecasillabo
piano), oder sich hingegen zwei weitere Silben (endecasillabo sdrucciolo) bzw. gar
keine (endecasillabo tronco) feststellen lassen.
Zur Veranschaulichung seien drei Verse aus Dantes Divina Commedia herangezogen.
Ungeachtet des unterschiedlichen Versendes sind sie alle als endecasillabi zu
klassifizieren, weil sie alle den Hauptakzent auf der zehnten Silbe tragen:
Nel 1 mez 2 zo 3 del 4 cam 5 min 6 di 7 no 8 stra 9 vi 10 ta 11 (Inferno I 1)
endecasillabo piano (10 + 1)
O 1 ra 2 cen 3 por 4 ta 5 l’un 6 de‘ 7 du 8 ri 9 mar 10 gi 11 ni 12 (Inferno XXXI 145)
endecasillabo sdrucciolo (10 + 2)
‚Spe 1 rent 2 in 3 te 4 ‘ di 5 so 6 pr’a 7 noi 8 s’u 9 dì 10 (Paradiso XXV 98)
endecasillabo tronco (10 + 0)
Dasselbe gilt für die anderen Versarten. Im settenario ist z.B. der Hauptakzent auf der
sechsten Silbe entscheidend: Je nachdem, ob am Versschluss eine parola tronca,
piana oder sdrucciola steht, können dann noch keine, eine oder zwei weitere
unbetonte Silben folgen.
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